Was ist Heimat?
Was ist Heimat?
Das rauschende Brechen der Wellen mischt sich mit dem aufgeweckten Zwitschern der Vögel. Der Wind braust über den weichen Sandstrand, welcher sich kilometerweit vor einer Kulisse aus idyllisch gelegenem Tropenwald erstreckt. Die Wärme der Sonne prallt auf den mit Salz und Sand bedeckten Körper, der sich wohlig warm anfühlt. Ab und zu kommt ein Jogger oder ein neugieriger Krebs vorbei, ansonsten haben wir den Strand für uns alleine.
Was wie eine Traumreise klingt, die man im hektischen Alltag als meditative Übung zur Stressminderung macht, ist gerade Realität. Was wäre, wenn ich hier einfach für immer liegen bleibe? Fern von jeglichen Sorgen, fern von Terminplänen, die einzuhalten sind, fern von Verpflichtungen. Einfach im Hier und Jetzt bleiben. Gedanken kreisen mir durch den Kopf. Dieses Gefühl der Geborgenheit kommt mir irgendwoher bekannt vor. Es fühlt sich an wie Angekommen Sein, wie Vertrautheit, wie Heimat.
Aber wenn irgendein Ort auf der anderen Seite der Welt sich plötzlich heimatlich anfühlt, was ist dann mit München? Ist das nicht mein eigentliches „zu Hause“?
Abschreckend finde ich mit Sicherheit die Vorstellung, dass Heimat eine Insel ist, um die man Zäune, Gräben oder Mauern bauen muss. Ein festgelegter Ort, an dem Menschen jegliche Art von Andersartigkeit verbannen wollen, um ihre „Heimat zu schützen“. An dem Menschen zu Gewalttätern werden, um aufkommende Vielfalt im Keim zu ersticken, einen respektvollen Umgang zu verhindern, ein harmonisches Miteinander unmöglich zu machen. Es sind Maßnahmen wie die Null-Toleranz-Politik gegenüber ankommenden Hilfesuchenden auf Booten vor Australien oder das altbekannte Beispiel des Mauerbaus in den USA, die weder mit universellen menschenrechtlichen Werten, noch mit dem heimatlichen Gefühl von Vertrautheit zu tun haben. Solche Aktionen instrumentalisieren ein unschuldiges Gefühl der Geborgenheit zu einem ungesunden Patriotismus, der ein verherrlichtes Bild von Ausgrenzung und Isolation zeichnet. Was im Ansatz manchen noch unproblematisch erscheinen mag, äußert sich in seiner Ausprägung allerdings auf die wohl menschenunwürdigste Art, die sich in unserem Zusammenleben ergeben kann: Ein im Ursprung positives Gefühl von Liebe zu Altbekanntem wandelt sich zu einer Haltung der Abneigung gegenüber Unbekanntem und aus ihrem Kern entspringt eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wie Rassismus, Sexismus oder Homophobie.
Auf der anderen Seite stehen Menschen, Gefühle und Situationen, die ich mehr mit Heimat verbinde. Sie symbolisieren für mich Werte wie Verbundenheit, Vertrautes, aber auch Offenheit.
Deren Inbegriff ist für mich ein bestimmter Ort im Herzen von München. Bis heute kehre ich gerne in das Stadtviertel zurück, in dem ich aufgewachsen bin. Das liegt nicht nur daran, dass im Westend im September ein gewisses Fest stattfindet, welches die Frequenz meiner Besuche jährlich exponentiell steigen lässt (man munkelt, es sei das größte Volksfest der Welt). Sondern vor allem daran, dass es dort eine Wohnung gibt, hinter deren Tür ich stets willkommen bin und man immer ein offenes Ohr für mich hat. Egal, wie sehr sich die Lebensumstände außerhalb deren Wände verändern, sicher ist: Wenn ich dort klingel, stehen meine Großeltern hinter der Tür und freuen sich, dass ich vorbeischaue.
Willkommen und aufgehoben sein. Dieses Gefühl beschränkt sich aber in keinster Weise nur auf das Innere dieser kleinen Wohnung.
Tagtäglich kehrt es zurück und auch in den vergangenen Tagen seit dem letzten Beitrag begegnete es mir. Nachdem wir die Blue Mountains hinter uns gelassen hatten, reisten wir weiter in das relativ bekannte Weinanbaugebiet „Hunter Valley“. Idyllisch zwischen den Weiten der Weinreben und Berge gelegen, befindet sich eine kleine Hotelanlage, in der wir eine Nacht verbringen durften. In malerischer Landschaft ließen wir den Tag unter den letzten schwachen Strahlen der Sonne bei einer Runde Tennis ausklingen. Abends saßen wir bei einem Glas Wein auf unserer Terrasse und schauten einer Gruppe von Kängurus zu, wie sie ein paar Meter vor uns Rast machten. Irgendwie hatte dieses Bild etwas Friedliches. Gerade jetzt zeigte sich wieder, dass Heimat um Dimensionen weiter gefasst werden kann, als die schlichte Ideologie einer zu schützenden, abgegrenzten Fläche.
Vielmehr bedeutet es für mich nicht nur Verbundenheit zu Menschen, sondern Verbundenheit zur Vielfalt der Natur und weiter gefasst zur Schönheit der Erde.
Einen Tag später blickten wir einige hundert Kilometer weiter in Byron Bay unter tosendem Wind bei Sonnenuntergang von der Erhöhung eines Felsens aus auf den weiten Horizont des Ozeans. Bestimmt eine halbe Stunde lang standen wir wortlos im heftigen Wind und genossen den Ausblick. Genauso weit wie unser Blick flogen auch die Gedanken und schon wieder kam das Gefühl von Heimat.
Wie sollte es anders sein, hatten wir auch am nächsten Abend nach einem faulen Tag einen Platz gefunden, um zu sehen, wie der rote, kreisrunde Ball in den Regenwald sinkt. Und auch dieses Mal nutzten wir den Moment, um in uns zu gehen und den Augenblick zu genießen.
Was ist also Heimat? Ich kann es nicht beantworten. Eine Definition dafür zu finden, wäre Unsinn. Denn so unterschiedlich Menschen sind, so unterschiedlich sind auch Ideen von heimatlichen Gefühlen.
Trotzdem wünschte ich, ich könnte denjenigen, die am lautesten nach dem „Schutz der Heimat“ mittels Verbannung von Andersartigkeit schreien, an solchen „magischen“ Momenten hier in Australien teilhaben lassen. Würde es auch ihren Horizont erweitern? Würden sie verstehen, dass ihre Vorstellung sehr engstirnig war? Oder bliebe alles beim Alten?
Wenn es nach Alexander von Humboldt ginge, würden Menschen mit Vorurteilen jedenfalls am besten für eine Zeit ins Ausland geschickt werden: „Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben.“

Sehr schön geschrieben 😃
Unglaublich schön geschrieben