Abtauchen im Zyklon
Es ist ein ganz normaler Abend im März 2018. Der Zeiger der Wanduhr bewegt sich langsam auf Mitternacht zu. Seit zwei Stunden versuche ich – wie ungefähr 20 andere Schüler auch – dem unsortierten Haufen an Blättern Herr zu werden, auf denen Einträge von der Struktur der RNA bis zum Zellzyklus gekritzelt sind. Einem erfahrenen Schüler reicht ein Blick auf das Handy, um zu erkennen, dass die riesige Anzahl an neuen Nachrichten im Jahrgangsstufen-Chat nur der Vorbote einer Klausur sein können. Wie der Großteil der Anderen habe auch ich wieder kurz vor knapp mit dem Lernen angefangen. Niemand will jetzt so wirklich an Lebensqualität einbüßen müssen, obwohl wir alle wissen, dass wir aktuell die Freizeit hinten anstellen müssten, um gute Ergebnisse für unsere Zukunft zu erzielen. Trotz des ständigen Druckes im Nacken landet man dann unter mysteriösen Umständen dann doch häufig an der Isar, im Südpark oder dreht eine Runde zum Starnberger See. Und nicht selten werden auch die Abende an den Wochenenden länger, als es für den nächsten Morgen sinnvoll gewesen wäre.
Diese Abwechslung vom durch-getakteten Schulalltag braucht es aber auch, um den Lernstress erträglich machen. Je extremer der Druck, desto extremer die Sehnsucht nach Ausbrüchen aus dem Muster, in das man gepresst wird und desto größer der Wille, den ständigen Leistungsansprüchen gedanklich für eine kurze Zeit entfliehen zu können.
Seit einigen Monaten ist nun der Druck weg, was auch an der gesunkenen Anzahl der Fahrten zum Starnberger See zu erkennen ist. Man könnte denken, auch die Lust nach Ausbrüchen fällt dadurch weg. Doch der Hunger nach Natur und Abenteuer hat sich immer noch nicht gelegt, die Nachwehen von zwei Jahren gymnasialer Oberstufe sind noch zu spüren.
Als wir uns allerdings dieses Mal auf der anderen Seite der Erde in Gefahr begeben, passiert das eher ungewollt. Da uns die Großstadt Cairns uninteressant scheint, fahren wir mit unserem Auto ein Stück raus aus der lärmenden Metropole. Von einem kleinen Dorf in der Natur treten wir einen Touristen-Rundwanderweg durch den Regenwald an. Was unspektakulär klingt, sollte aber doch eine größere Herausforderung als gedacht werden. Klar, wir wissen, dass es in den letzten Tagen in Strömen geregnet hat, aber was das im „Dschungel“ für Konsequenzen mit sich zieht, erfahren wir spätestens 10 Minuten nach Beginn unserer Wanderung. Plötzlich verschwindet der Pfad im Wasser und wir schauen verwirrt über einen ungefähr 10 Meter breiten Fluss, der braunes, unklares Wasser mit sich führt. Irgendwie erinnert mich diese Farbe des aufgewühlten Wassers an eine Reality-Serie auf DMAX, bei der ein völlig überdrehter Amerikaner mit Fluss-Krokodilen kämpft, weil… Ach, ich weiß nicht wirklich warum, vermutlich weil Amerikaner einfach darauf stehen. Wir schauen auf die gegenüberliegende Seite des Flusses und entdecken, dass dort der Pfad weiterführt. Der Regen hat ihn wohl an dieser Stelle überschwemmt.
Übrig bleiben also zwei Möglichkeiten: Umdrehen und auf Sicherheit gehen oder durch den Fluss waten. Auch die Tatsache, dass wir ein paar Tage zuvor auf einer Krokodilfarm waren und gesehen haben, wie gut sich Krokodile in einem solchen Gewässer verstecken aber dann plötzlich angreifen können, macht uns die Entscheidung nicht leichter. Mit der vorgesetzten Gewissheit, dass dies ja aber für Touristen ausgelegt sei, fangen wir an, über den Fluss zu waten. Zum Glück ist er relativ flach, aber trotzdem müssen wir langsam gehen, da die Strömung ziemlich stark ist. Als das Wasser so zwischen meinen Beinen durchfließt, muss ich noch daran denken, was sich sonst noch so plötzlich um meine Beine schlingen könnte und ich lege einen Zahn zu, als mir einfällt, dass im Internet auch von Wasserschlangen in der Gegend die Rede war.
Die Quote nach der Flussüberquerung ist dann aber doch relativ gut. Nur ein Blutegel, der sich kurzfristig an Daniels Hand festsaugt und einer an meinem Rucksack, aber im großen und ganzen können wir unversehrt unsere Wanderung fortsetzen. Der restliche Weg ist gezeichnet von weiteren Überschwemmungen, die wir manchmal barfuß durchqueren oder, wenn es zu tief ist, über den dichten Wald ausweichen. Im Wasser liegen hin und wieder ein paar Regenwürmer. Wenn wir den Weg umgehen, begegnen uns am Boden hunderte von kleinen Fröschchen, die vor uns weghüpfen und auf Kopfhöhe das ein oder andere Spinnennetz mit fetten, ekelerregenden Spinnen in deren Zentrum. Irgendwie faszinierend. Klar, man sieht hin und wieder im Fernsehen Dokumentationen über den Regenwald, aber so richtig vorstellen konnte ich mir das nie.
Interessanter macht es das Ganze auch, weil hier im Gegensatz zu Wanderungen in den Münchner Voralpen die Gefahr von wilden Tieren auch wirklich reell ist. Während man im Bayrischen Süden ab und zu mal an verschlafenen und vor sich hin-träumenden Kühen vorbeischlendert, gibt es im Daintree Rainforest immer wieder mal die Meldung von einem tödlichen Krokodilangriff. Aber zum Glück wissen wir durch unsere Tour auf der Krokodilfarm ja jetzt, wie man sich bei einem Angriff verhalten soll: Der Guide erklärte, er habe schon viel von Leuten gehört, wie man sich dabei am schlauesten verhalten solle. Aber die Taktik mit den besten Überlebenschancen ist: Schritt eins: Den Körper um 180 Grad drehen. Schritt zwei: So schnell laufen, wie man nur kann. Wenn das nicht mal ein hilfreicher Geheimtipp ist…
Wie auch immer, nach zwei Stunden Abenteuer kommen wir verschwitzt, aber heil wieder in dem kleinen Dorf an und lassen uns auf der Heimfahrt von der Klimaanlage unseres Mietautos verwöhnen. Am Abend sitzen wir in einem Grill-Restaurant, Daniel lässt sich eine Fleischsorte nach der anderen (von Hühnchen bis Känguru) servieren und ich als Nicht-Fleischfresser esse genügsam die Beilagen und ein paar Nudeln.
Schon am nächsten Tag wartet das nächste unvorhergesehene Abenteuer auf uns. Ein Schnorchelausflug auf die kleine, unbewohnte Insel Frankland Island. Was erst einmal nach Rentner-Bespaßung klingt, wird schon interessanter, wenn der Spaß unter dem strömenden Regen der Ausläufer eines Zyklons stattfindet. Nachdem wohl im Norden Australiens kurz zuvor ein solcher Sturm gewütet hat, der allerdings zu klein war, um es in die Nachrichten zu schaffen, reicht dadurch die Sicht heute von unserem Ausflugsboot nicht mehr als 50 Meter auf‘s Meer hinaus. Das klingt erst einmal schlimmer, als es ist, denn nach unserem heftigen Sonnenbrand ist dieses kühle Wetter (25 Grad) ein Wohlgenuss für unsere Haut. Für das Schnorcheln bekommen alle 50 Passagiere des Schiffes kurz vor der Insel die volle (übertriebene?) Tiefseetaucher-Ausrüstung, die ein bisschen an jene beim Bridge Climbing in Sydney (-> „Zwischen Schönheit und Kommerz“) erinnert. Ein eng anliegender Ganzkörperanzug, und Schnorchel, Brillen und Flossen in verschiedensten grellen Farben. Als würden Marsmännchen das Land erobern, strömen wir nach dem Anlegen des Bootes mit unseren Anzügen auf die bis dahin seelenleere Insel und beginnen unsere Erkundung.
Als ich mich ins Wasser begebe, merke ich keinen Unterschied zu außerhalb des Wassers, da es immer noch in Strömen gießt. Nur ein bisschen wärmer ist das Meer als der Regen und so tauchen wir wieder mit einem angenehmen Prasseln auf dem Rücken in die unglaubliche Unterwasserwelt ein. Was da oben für ein Sturm wütet, interessiert hier unten keinen Fisch. Sobald ich untertauche, verstummen alle Geräusche und ich fühle mich eine Zeit lang, als würde ich hier dazugehören. Die Korallen sind gigantisch groß, manche haben einen Durchmesser von bestimmt zehn Metern und zwischen ihnen schwimmen Fischschwärme in allen Farben über die bunten Pflanzen. Diesmal sehe ich keine Schildkröte, dafür gibt es in diesem Gebiet aber eine größere Vielfalt an Fischarten. Und ab und zu durchquert ein ungeschicktes Japaner-Marsmännchen meine Sicht.
Es hat bei mir ein bisschen gedauert bis ich nach dem stumpfen In-Sich-Hinein-Pressen von Wissen in der Schule wieder so etwas wie Neugierde für etwas empfinden konnte, aber genau solche Momente wecken diese wieder in mir.
Und genau solche Momente sind es, die die Freiheitseinschränkung der letzten zwei Jahre ein Stück weit wieder kompensieren und mir das Gefühl geben, dass absolute Freiheit einen kurzen Augenblick lang doch möglich ist.
Diesmal eben nur nicht am Steg am Starnberger See, sondern 15.000 Kilometer weiter auf der anderen Seite des Planeten.