Zwischen Absteige, blutenden Beinen, und weißem Sandstrand
Bis dahin muss ich noch ein bisschen üben, deswegen fangen wir doch mal an. Aber wie? Meinen Verwandten würde es sicherlich reichen, einfach nur eine Liste meiner Erlebnisse zu erstellen. Andere erwarten schon ein bisschen mehr Spannung und Zusammenhang. Und ich persönlich will dem Bericht noch ein bisschen Sinn verleihen und nicht der eine Millionste Abiturient sein, der heute in seinem Gap-Year schönes Wetter hatte.
Denn auch, wenn es eine Art Selbst-Rechtfertigungs-Haltung von Menschen ist, den perfekten Urlaub vorgaukeln zu müssen, „schön“ ist bei einer Reise von mehreren Monaten sicherlich nicht alles. Ich würde viele Erlebnisse eher als „unvergesslich“ einordnen – im positiven wie im negativen Sinn. Von letzterem hatte ich in den letzten Tagen vor allem bei zwei Situationen eine ordentliche Portion.
Mein persönliches Tief ist nach vier Wochen Urlaub erreicht, als mein Zeigefinger beim Erkunden von Google Maps diesmal weniger Glück hat und die laute, dreckige Stadt Bentong als nächsten Stopp aussucht. Etwas verwundert, warum ich hier meine Zeit verbringen will, setzt mich der nette, alte Taxifahrer, der mich gerade zum Mittagessen eingeladen hat und seiner Frau ein Selfie davon geschickt hat, hier ab. Auch ich bemerke spätestens jetzt, dass ich dieses mal nicht gerade einen Glückstreffer gelandet habe und muss feststellen, dass meine neue Unterkunft – wie soll ich sagen – eine echte Absteige ist.
Zum ersten Mal wird es wirklich Ernst und ich muss meinen Schlafsack auspacken, denn man merkt der Bettwäsche an, dass sie schon mit anderen Körpern, als nur mit dem meinigen gekuschelt hat. Obwohl ich generell ein Liebhaber von Offenheit bin, schätze ich es nicht gerade, dass man die Fenster nicht schließen kann. Zudem muss ich mir ein Gemeinschaftsbad mit einer vor sich hin-rotzenden, laut-telefonierenden Chinesin teilen und das Geschirr in der Gemeinschaftsküche hat auch schon mal sauberere Zeiten erlebt. Zwar bekomme ich ein paar unerwartete Einblicke in der Stadt, denn ich lande bei meiner Erkundung plötzlich in den ärmlichen Baracken der nebenan beschäftigten Bauarbeiter und finde eine christliche Schule, die ich mit Einverständnis der Direktorin besichtigen darf.
Allerdings bin ich so angeekelt von meiner Unterkunft und abgeschreckt von dem Lärm der Stadt, dass ich gleich am Morgen den ersten Bus nehme, um so schnell wie möglich wieder von hier wegzukommen. Im Nachhinein kann ich schon wieder darüber lächeln. Wenn man es live miterlebt, hat man jedoch Schwierigkeiten, schon währenddessen einfach so über den Dingen zu stehen. Das war also Nummer eins.
Bei meiner zweiten „Pech-Erfahrung“ kann ich im Gegensatz zur Ersten schon schmunzeln, während ich die Situation über mich ergehen lasse. Nach einer Zugfahrt muss ich zu einem Ort weiterreisen, den man mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur mit vier Mal umsteigen erreichen kann. In meiner jugendlichen Leichtfertigkeit lasse ich mich von einem alten Mann bequatschen, der mir vorgaukelt, er wäre Taxifahrer und er würde mich dort für umgerechnet 15 Euro hinfahren. Ist okay, das ist der normale Preis für eine Stunde Taxi fahren, denke ich. Als wir jedoch zu seinem „Auto“ gelangen, muss ich grinsen. So langsam erahne ich, was mir hier blüht. Gut, dass es in Malaysia keinen TÜV gibt, denn sonst könnte man das Auto allenfalls im Museum ausstellen, aber sicherlich keine Menschen damit transportieren.
Der alte Mann öffnet alle Fenster, die jeweils mit einer Kurbel zu bedienen sind, eine Klimaanlage gibt es nicht. Auch innen wird es nicht besser. Ich greife ins Leere, als ich mich anschnallen will. Okay, dann eben ohne Gurt. An manchen Stellen, an denen das Dach von unten angerostet ist, ist einfach mit Zeitungspapier nachgebessert worden. Beim Starten würgt der Motor ein paar Mal ab, auch er hat seine besten Tage schon hinter sich. Die Tankanzeige ist auch eher ein Ausstellungsstück, denn sie bleibt konstant auf Null. Dagegen meint es der Scheibenwischer zwar gut, verteilt das Wasser des kurzen Schauers aber mehr auf der Scheibe, als dass er seiner eigentlichen Aufgabe des Wegwischens nachkommt. Ich wundere mich nicht einmal mehr, als plötzlich vorne noch ein malaiischer Fahrgast einsteigt, der einen Teil der Fahrt mitgenommen wird.
Irgendwann schaue ich – eher zufällig – in den Rückspiegel und sehe, dass der Fahrer gerade drauf und dran ist, ein Nickerchen zu halten. Als er dann endgültig für zwei Sekunden wegschlummert, stelle ich hektisch und laut irgendeine Frage, die mir als Erstes in den Sinn kommt. „How old is the car?“ Er schreckt hoch, schaut sich um und ist ein bisschen verwirrt, also versuche ich es mit anderen Fragen. Zu meiner Erheiterung muss ich feststellen, dass der Fahrer außer der Erklärung, dass man mit dem Bus zu lange brauche, gar kein Englisch spricht. Selbst der einfachsten Frage „Where are you from?“ entgegnet er mit „twenty“. Egal, Hauptsache ihn wach halten. Ab und zu streckt er seinen Zeigefinger aus und nickt mir freundlich zu und ich nicke freundlich zurück. Dass ich noch heil ankomme, würden Gläubige einen Gottesbeweis oder Atheisten einen Folge meiner Aufweckversuche nennen. Mir eigentlich egal, Hauptsache angekommen. Ab jetzt führe ich Regel Nummer 1 ein: Nur noch Taxis, die ich per „Grab“-App rufe.
Das Schöne an „schlechten“ Erfahrungen auf Reisen ist, dass man danach immer was zu erzählen hat. Und ich habe schon bemerkt, dass es für Leute irgendwie interessanter ist, wenn sie etwas über missglückte Dinge hören, als wenn ich über die schöne Landschaft hier rede. Trotzdem kommen mir auch viele „positive“ unvergessliche Momente in den Sinn, wenn ich die letzten Tage Revue passieren lasse.
Da ist zum Beispiel der Hotelketten-Inhaber in Mentakab, der mich bei meinem Zwischenstopp in der kleinen Stadt herumkutschiert, der Junge, zu dem ich mich im Dschungel-Express-Zug bei offener Tür dazugeselle und wir gemeinsam eine rauchen oder der liebsame Besitzer des Homestays in Jerantut, der mir Früchte vom Markt und aus seinem Garten aufschneidet und sich zum Quatschen zu mir gesellt. Und natürlich nicht zu vergessen, als ich im McDonalds morgens um 6 drei Stunden warten muss und die gutmütige, ältere McDonalds-Mitarbeiterin mit Kopftuch mit den großen sorgsamen Augen einer Großmutter fragt, ob sie mir noch einen Kaffee bringen kann.
Offen sind sie nicht nur gegenüber mir, sondern auch generell in Bezug auf andere Ethnien. Da sich die Bevölkerung aus drei Bevölkerungsgruppen zusammensetzt – Malaysier*innen, Chines*innen, Inder*innen – ist Multikulturalität an der Tagesordnung . Tempel stehen neben Moscheen, Curryrestaurants neben Nudelsuppen-Küchen und in Souvenirläden chinesisches Geklimper neben wild blinkenden indischen Götterbildern. Obwohl eine dunkle Vergangenheit mit vielen Kolonien und Kriegen dazu geführt hat, dass die Zusammensetzung jetzt so ist, wie sie ist, können die verschiedenen Völker und Glaubensansätze mittlerweile weitgehend friedlich parallel existieren.
So, genug mit dem Geschichtsteil. Was man natürlich hören will, sind blutige Geschichten, wie ich mich durch den Urwald schlage, Schlangen erwürge und Tiger töte. Und auch das kann ich liefern. Zumindest teilweise 🙂
Gemeinsam mit einem netten Holländer-Pärchen und einem Guide brechen wir in den dichten Dschungel im Taman-Nagara-Nationalpark auf. Wobei, Guide ist zu viel gesagt. Bei uns in Europa bräuchte ein Dschungel-Guide wohl zwölf Erste-Hilfe-Kurse, ein abgeschlossenes Studium mit Berufserfahrung und eine Medaille als Weltmeister im Rettungsschwimmen, um ein Zertifikat zu erhalten, mit dem er sich bewerben kann. Bei dem, mit dem wir es hier zu tun haben, liegen die Kompetenzen eher darin, alle halbe Stunde einmal vor Müdigkeit zu gähnen, alle zwanzig Minuten ein „Allahu Akbar“ vor sich hin zu stöhnen und alle zwei Minuten laut zu rülpsen. Als wir ihn fragen, was er denn mache, wenn sich jemand verletze, meint er „If somebody gets hurt, we can discuss in the group what to do next. Maybe someone has a better idea than me.“ Na dann wär ja alles geklärt.
Den ganzen Tag lang folgen wir bei 30 Grad im Schatten den Pfad durch den Dschungel. Vor allem die Blutegel machen uns zu schaffen. Man spürt sie nicht und plötzlich sind sie schon am Knöchel und fangen an zu saugen. Sobald man sie wegzieht, hört der Knöchel gar nicht mehr auf zu bluten, also lassen wir irgendwann unsere anfänglichen Versuche, die Blutung zu stoppen, sein und überlassen den unteren Teil unseres Körpers seinem Schicksal. So sieht das dann aus, wenn es fertig geblutet hat:
Mit blutverschmierten Beinen, vollkommen durchschwitztem T-Shirt und verschlammter Hose erreichen wir die Höhle, in der wir übernachten werden. Jetzt erst versorgen wir unsere Wunden, um dann unsere Isomatten auszubreiten.
Die Höhle ist riesig, zu Höchst-Touristen-Zeiten schlafen hier 50 bis 100 Leute, heute jedoch haben wir sie für uns alleine. Während wir drei uns ein bisschen umsehen, bereitet der Malaysier mit einem Gaskocher unser Essen zu. Es gibt Reis mit Curry. Das ist sogar so gut, dass ich langsam doch das Gefühl habe, in den richtigen Händen gelandet zu sein. Als es dunkel wird, macht er Feuer und wir leuchten die Höhle mit Kerzen aus. Gemeinsam richten sich unsere Augen auf das Flackern des Feuers, wir hören es knistern und lassen unsere Gedanken ein schweifen. Dieser einfache Lebensstil bringt auch ein Gefühl der Freiheit mit sich. Nur das nötigste Gepäck mit sich, umsichtig mit der Natur und den Tieren, sich anstatt vor die X-Box vor das Feuer setzen. Die andere Seite der Romantik ist allerdings, dass es 30 Grad hat und diese gerade zu gefühlten 50 Grad werden. Egal, ist trotzdem immer ein Erlebnis.
Kurz vor dem Schlafengehen treibt es uns noch aus der Höhle zu einer Nachterkundung. Uns begegnen Stachelschweine, wir treffen auf einen großen Skorpion, Riesen-Spinnen, Frösche, Mäuse und Kakerlaken, die ihre Opfer von innen und außen auffressen. Na dann, gute Nacht.
Schon kurz nach dem Hinlegen muss ich feststellen, dass mein Schlafplatz direkt an einem Stachelschwein-Highway liegt. Sobald ich mal kurz eingenickt bin, wache ich durch ein Rascheln direkt neben mir auf, knipse die Taschenlampe an und sehe in ein verschrecktes Schweingesicht, das gerade lecker Kerzenwachs fressen will. Sofort nimmt es die Beine in die Hand, um wieder abzuzischen. Aus Angst vor den Insekten und Mäusen ziehe ich den Schlafsack immer weiter über meinen Körper, um dann festzustellen, dass ich in einer Sauna schlecht schlafen kann. Also befreie ich mich wieder. Das geht dann so lange bis die erste Mücke auf meinem Zeh landet, sodass ich mir ausmale, was da sonst noch alles landen könnte und das ganze Spiel beginnt wieder von vorne. Irgendwann muss ich dann wohl doch eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal aufwache, ist es schon wieder hell.
Das Frühstück besteht aus Instant-Kaffee, Toast und Fertig-Bananenkuchen. Dann brechen wir wieder auf, ein paar weitere Stunden durch den Dschungel. Da es in der Nacht heftig geregnet hat, sind die Pfade matschig und die Flüsse überschwemmt. Während wir anfangs noch lange Äste über das Wasser legen, um dann mit unserem vollen Gepäck darüber zu balancieren, ist das beim letzten Fluss mit fast zehn Metern Breite nicht mehr möglich. Da die Schuhe eh schon durchmatscht und nass sind, lassen wir sie einfach an und steigen in die hüfthohe, braune Brühe. Wie richtige Explorer waten wir durch den Fluss. Eine Stunde später erreichen wir den Punkt, von wo aus uns ein Boot wieder in die Zivilisation bringen soll. Da es aber noch nicht angekommen ist, gehen wir erst einmal im Fluss baden, um unsere frischen Blutegel-Wunden und vor allem unsere verschwitzten Körper zu abwaschen.
Wie aus dem nichts bricht plötzlich ein heftiges Gewitter aus und wir müssen uns unter einen wackeligen Unterstand aus Blech stellen. Zum Glück sind wir jetzt nicht mehr im Dschungel, denn man hört bis hier, wie immer wieder Bäume zusammenkrachen. Eine Weile warten wir ab und filmen das Naturschauspiel. Als der Regen nachlässt, schaufelt der Kanufahrer das Wasser aus seinem Boot und wir fahren eine Stunde bei leichtem Nieselregen wieder Richtung Ausgangspunkt. Mal wieder durchnässt endet hier unser Abenteuer leider schon.
Schon einen Tag später erlebe ich das volle Kontrastprogramm. Mittlerweile bin ich auf der Tropeninsel Perhentian Island Besar. Das heißt weiße Strände, meine ersten wunderschönen Tauchgänge und gute Mango- und Bananenshakes. Hier lässt sich es natürlich auch aushalten. Einfach nur am Strand liegen und vor sich hin-vegetieren.
Meine Gedanken schleichen sich fast unbemerkt aus dem dichten Wald von täglichen Whatsapp-Nachrichten, Terminstress, und dem globalen Newsfeed.
Ist doch alles super? Ja, das mit den Whatsapps und Terminen finde ich auch. Während aber einige Leute mit Stolz erzählen, dass sie gar keine Nachrichten mehr hören, „weil da eh immer nur schlechte Geschichten gebracht werden“, bin ich komplett gegenteiliger Meinung. Gerade das Interesse der Menschen an Politik, Kultur und Gesellschaft macht den Unterschied eines demokratischen Landes zur (wenig ausgeprägten) Rechtsstaatlichkeit auf hier dem asiatischen Kontinent. Beispiele gefällig? In Malaysia ist die Todesstrafe noch immer ein gängiges Mittel zur Bestrafung von Verbrechern. Und durch Korruption ist eine Palmöl-Plantage anstelle der Vielfalt des Regenwaldes plötzlich okay.
Und ja, man könnte jetzt einfach am Strand chillen und alles außenrum vergessen. Aber der Schein von Idylle trügt. Ist es da nicht ignorant, sich selbst auf die faule Haut zu legen und Ungerechtigkeiten ungehindert ihren Lauf zu lassen? Sind Nachrichten nicht gerade jetzt und hier wichtig, um aufgeweckt zu werden und die Enttäuschung in Engagement umzuwandeln?
Zumindest die SZ-Podcasts auf Spotify ziehen mein fliehen-wollendes Ich immer wieder in den Wald aus Nachrichten und Engagement zurück.