Kambodscha: Krieg. Schwimmende Dörfer. Lächelnde Kinder. Worst Case.
„Hello Sir, Tuktuk!“ Fast 40 Grad Hitze und eine Horde von Tuktuk-Fahrern empfangen mich, als ich aus dem Flughafengebäude der Hauptstadt Phnom Penh trete. Kambodscha, mein erstes Reiseland, in dem kein McDonald‘s zu finden ist, gibt mir schon am Tag meiner Ankunft die volle Dröhnung seiner Eindrücke. Unkoordinierte Menschenströme, undurchsichtiger Verkehr, hupender Lärm, stechende Hitze, goldene Tempel. Abgeschreckt werde ich zur Begrüßung gleich mal durch eine Masseurin, die mich zwei Mal fragt, ob ich nicht „Massage Special“ haben will. „No!“, ich will doch einfach nur massiert werden… Auch, dass mir bei meinem ersten Spaziergang durch die Stadt zwei Mal Weed angeboten wird, bestärkt meine Vermutung, dass westliche Urlauber hier nicht gerade Kultururlaub verbringen.
Benjamin Prüfer, ein hier ansässiger deutscher Autor, findet in seinem Buch „Gebrauchsanweisung für Vietnam, Laos und Kambodscha“ für die Atmosphäre eine bildliche Beschreibung: Kambodscha wirke so, als sei unter allem ein Kontrastmittel untergemischt. Alles, was man sieht, ist in irgendeiner Form extremer ausgeprägt, als wir es kennen: Kräftigere Farben auf den Märkten, ausgefallenere – angenehme wie üble – Gerüche, stärkere vom Leben gezeichnete Charaktere. Aber auch vermülltere Straßen und Gewässer, extremere Hitze oder Regen, äußerstes menschliches Leiden.
Letzteres ist wohl auch der dunklen Geschichte des Landes geschuldet. Relativ ungesehen von der Weltöffentlichkeit geschieht hier in den 70ern, also vor nicht allzu langer Zeit, ein Genozid mit mehreren Millionen Toten. Unter Pol Pot bringen die Roten Khmer – ähnlich wie bei den deutschen Nationalsozialisten – systematisch unschuldige Menschen um. Mit Ideen, auf die nur ein Kranke kommen können, starten die Kommunisten ein Programm, welches mit unvorstellbarer Grausamkeit Foltermethoden, bis zum Tod erschöpfende Zwangsarbeit und Ermordungen in dafür errichteten Lagern vorsieht, „um das Reich von Angkor wieder auferstehen zu lassen“. Eine nationalistische Ideologie, welche die „Beseitigung“ von Kambodschanern chinesischer oder vietnamesischer Abstammung sowie von Intellektuellen auf der Agenda hat.
Zur Errichtung eines Bauernstaates wird unter dem verharmlosenden Begriff der „Agrarrevolution“ die gesamte Bevölkerung zum Betreiben von Landwirtschaft aus den Städten vertrieben. Zusätzlich zerstören die Roten Khmer alle technischen Geräte zur Abschottung der Bevölkerung, trennen Familien mit der Einteilung in verschiedene Arbeitsgruppen, untersagen jegliche religiöse Betätigung, verbieten Gefühlsäußerungen wie Weinen oder Lachen, zerstören Krankenhäuser, schaffen die Justiz bis auf die Todesstrafe ab, benutzen ermordete Leichen als Dünger – um nur einige der grausamen und unvorstellbar irren Maßnahmen zu nennen. Erinnert mich stark an die Geschichte des eigenen Landes und ist zutiefst widerlich und traurig.
Übrig bleibt von dem Schrecken bei den Menschen heute nicht mehr viel, denn ein Großteil der Kambodschaner ist so jung, dass sie den Genozid nicht mehr miterlebt haben. Und auch eine Aufarbeitung des Themas in der Schule kann man sich nicht so gründlich vorstellen wie bei uns, denn das Bildungssystem ist noch nicht sehr fortschrittlich, sondern vielmehr ein Überbleibsel des Schreckens. Da während der Herrschaft der Roten Khmer mehr als 90% der Lehrer*innen ermordet wurden (weil intellektuell), fehlt es heute vor allem an Fachkräften. Schulpflicht gibt es sowieso nicht und für mehr als der Hälfte der Kinder ist nach der Grundschule Schluss mit Bildung.
Vor allem in Phnom Penh begegnen mir viele Kinder, die ihr Leben auf der Straße verbringen. Aber auch junge Menschen, die ein zu Hause haben, werden von den Eltern auf die Straße geschickt, um billige Souvenirs zu verkaufen, während sie selbst oft zu Hause Karten spielen. Schlechtes Gewissen verfolgt mich, wenn Straßenkinder zum Betteln zu mir kommen. Einerseits will ich ihnen helfen und ärgere mich über die Ungerechtigkeit auf der Erde und andererseits ist Geld Geben auch keine Lösung, denn das bekräftigt sie weiterhin zu betteln und womöglich dürfen sie es gar nicht selbst behalten, sondern sind ein lukratives Geschäft für irgendwelche Erwachsene in Hinterzimmern. Also wähle ich einen Mittelweg aus Ignorieren und Geld und versuche in Englisch ein bisschen mit ihnen zu reden, um ihnen Aufmerksamkeit zu geben und das Gefühl von Akzeptanz zu vermitteln. Trotzdem bin ich natürlich nicht glücklich damit. Es müssen größere, staatliche Lösungen zur Beseitigung der Armut her, denn selbst wenn das Geld schließlich beim Kind ankommt, würde das Kind nach Aufbrauchen der Spende wieder dastehen und betteln.
Die Abende in der Hauptstadt verbringe ich vor dem Hotel mitten in der lebhaften Innenstadt. Dort findet das soziale Leben statt, ich lerne Leute kennen und lasse den Abend gemeinsam bei dem ein oder anderen Meditationstee ausklingen. Dabei treffe ich die unterschiedlichsten Leute: Ein deutscher Rentner-Aussteiger, der die Wintermonate in Asien verbringt, eine junge Krankenpflegerin aus der Schweiz, die ein paar Monate frei gemacht hat, Deutsche, die das Bayern-Spiel gegen Dortmund streamen, ein Kroate, die nette Kambodschanerin von der Rezeption, die weniger als einen Dollar die Stunde verdient, ihr süßer Hund und so weiter… Es tut gut, nach einem anstrengenden Tag mit vielen neuen Eindrücken gemeinsam über den Tag und die Nichtigkeiten des Lebens quatschen zu können und das Erlebte so zu verarbeiten.
Nachdem ich genug von der Stadt habe, miete ich mir einen Roller, um aus dem Gewusel zu kommen und das Land erkunden zu können. Der Roller ist eigentlich mit einer ziemlich guten Federung ausgestattet. Doch bei den kambodschanischen Straßenverhältnissen fühlt sich mein Allerwertester nach jeder Fahrt trotzdem an wie drei Jahre Guantanamo. Wie schnell ich fahre weiß ich nicht, denn die Geschwindigkeitsanzeige bleibt konstant auf 0. Das ist allerdings nicht so schlimm, es hält sich hier sowieso niemand an irgendwelche Geschwindigkeitsbegrenzungen, geschweige denn an Grundregeln im Straßenverkehr. Das kostet jährlich zirka 17 Menschen pro 100.000 Einwohner das Leben (vgl. Deutschland: ca. 4). Einmal schaltet sich der Motor meines gelben Flitzers plötzlich von selbst aus und ich muss am Straßenrand stehen bleiben. Das Benzin ist leer. Konnte ich ja nicht erahnen, denn die Tankanzeige hat keine Nadel mehr. Es ist schon dunkel und ich habe riesiges Glück, dass 20 Meter vor mir ein Stand ist, der Benzin in Flaschen verkauft. Ein Dollar pro Liter, der normale Preis. Nochmal gut davon gekommen, ab jetzt lieber einmal zu oft zur Tanke, als dann in der Hitze oder wieder im Dunkeln irgendwo stehen zu bleiben.
Ein paar Stunden nach Aufbruch aus Phnom Penh erreiche eine Stadt, deren Namen ich jedes Mal wieder googeln muss, weil er einfach so schwer zu merken ist: Kompong Chhnang. Ja, das sollte die richtige Rechtschreibung sein. Eine ländliche Hafenstadt am Tonle Sap See, in der die Menschen immer noch sehr traditionell leben. Die meisten von ihnen betreiben Fischfang oder bauen Reis an. Bei einer kleinen Erkundungstour abseits der Hauptstraßen fange ich mit der Kamera Bauern ein, die gerade ihr Reisfeld abbrennen, um es für den nächsten Anbau vorzubereiten.
Dass die Gegend hier noch nicht viele Touristen gesehen hat, merke ich an den überrascht aufblickenden Gesichtern, wenn die Leute mich vorbeifahren sehen. Als ich die Hauptstraße entlang fahre, fühle ich mich wie der Bürgermeister, denn von allen Seiten winken mir lächelnde Gesichter von Kindern und Jugendlichen zu. Auch auf der Sandstraße an der Seepromenade freuen sich die Leute anscheinend, mich zu sehen. Eine besonders über das Gesicht strahlende Gruppe von Kindern lädt mich zu einer Runde Fußball ein, also kicken wir ein bisschen und die Kleinen haben eine Menge Spaß. Bei dem freundlichen Zulächeln muss man es allerdings belassen, denn hier leben einfache Leute, von denen ich nicht einen einzigen gefunden habe, der Englisch spricht. Laut der Organisation „Education First“ liegt Kambodscha in den Englischkenntnissen von 88 untersuchten Ländern noch hinter beispielsweise Syrien auf Platz 85. Geringere Englischkenntnisse haben demnach nur noch Usbekistan, Irak und Lybien.
Als einzige Touristenattraktion kann man sich mit einem nussschalenähnlichen Boot durch die schwimmenden Dörfer kutschieren lassen. Aber ist ja klar, dass es bei wenigen Touristen auch kein Füllhorn an Attraktionen geben muss. Generell steigen die Touristenzahlen in Kambodscha zwar jährlich, aber wirklich überlaufen ist das Land noch nicht. 2017 waren laut World Tourism Organization 5,6 Millionen Menschen zu Besuch, also weniger als in zwei Wochen über das Oktoberfest laufen. Ja, ich weiß, Äpfel mit Birnen…
Auch wenn bei unverhältnismäßig teuren 20 Dollar von Budgeteinhaltung nicht die Rede sein kann, nehme ich den Preis für die zweistündige Bootsfahrt in Kauf, um im Endeffekt sehr schöne Einblicke in das Leben auf dem Wasser zu bekommen.
In der liebevoll angelegten, grünen und ruhig gelegenen Guesthouse-Anlage lerne ich einen amerikanischen Mönch kennen. Normalerweise stelle ich mir einen gläubigen Buddhisten so vor, dass er bedachte Wörter wählt und ruhig über das Leben sinniert. Als wir uns aber länger unterhalten, fängt der 75 Jahre alte, glatzköpfige und dürre Mann plötzlich an, über Trump zu schimpfen, über die Kriegsfähigkeit von Russland zu schwadronieren und über amerikanische Milliardäre herzuziehen. Er verabschiedet sich dann, denn er muss jetzt „über die neuesten Entwicklungen im Amerika-Russland-Konflikt lesen“. Hm, na dann… Also die Ruhe selbst ist er ja nicht, aber ein politischer Mönch gefällt mir auch irgendwie.
Viel ruhiger und klarer ist die Besitzerin des Guesthouses. Während der Mittagshitze sitzen wir in einer schattigen Sitzecke und sie erzählt über ihre religiösen Vorstellungen. Wie mehr als 90% der Kambodschaner*innen ist auch sie Buddhistin. Immer wieder zeigt sie auf die Stelle, an der ihr Herz liegt und macht mir klar, dass ich mich nicht von äußeren Sachen von meinem Weg abbringen lassen soll. Ich soll das eigene Leben in einer Metaebene betrachten: mir klarwerden, dass es Höhen und Tiefen gibt. Um so, wenn mir aktuell Schlechtes widerfährt, sagen zu können: Ja, ich wusste, dass das passieren wird. Das Äußere ist immer inkonsistent und will uns manchmal Schmerzen zufügen. Aber das, was konstant und standhaft bleibt, ist das Herz. Darauf sollen wir uns besinnen, wenn es uns gerade schlecht geht. Als hätte sie gewusst, was mir kurz später passiert, helfen mir ihre Worte schon am Abend, als…
… der Worst Case Realität wird. Also wirklich das Dümmste, was einem auf einer Reise passieren kann. Nein, ich habe weder etwas Schlechtes gegessen, noch habe ich im Suff geheiratet. Ich verliere das Wichtigste, was man auf einer Reise mitnimmt: mein Handy. Plötzlich stehe ich allein in Asien ohne Kontakt zur Heimat, ohne Routenführung, ohne Taschenrechner, ohne Google, ohne Übersetzer, ohne Musik, ohne booking.com. Ich bin mir nicht sicher, wie es abhanden gekommen ist. Entweder wurde es mir auf dem Markt geklaut oder es ist auf einer Schotterpiste aus der Tasche gefallen. Die ersten Reaktionen aus der Heimat sind wie erwartet humorvoll. „War ja wieder Zeit“, oder „Hast ja eh schon lange mit dem Handy durchgehalten“ heißt es da, denn Handys verlieren – und da bin ich wirklich nicht stolz – ist eine Spezialität von mir.
Nach zwei Stunden hin- und herfahren gebe ich also die Suche auf und begebe mich in meine eigentlich schöne Unterkunft: Mit einem kleinen Holzboot geht es auf das Haus in einem schwimmenden Dorf. Dort sitze ich dann. Und schaue. Und überlege, was ich jetzt machen kann. Aber man kann hier nichts machen. Hier ist ein Tisch. Stühle. Eine Hängematte. Ich kann weder auf mein Handy schauen, noch spazieren gehen, noch irgendwas tun, was gerade auch nur annäherd meine vielen durcheinanderredenden Männchen im Kopf beruhigen könnte. Nicht einmal mit den Gasteltern kann ich reden, die sprechen bis auf die Wörter „dollar“ und „boat“ kein Englisch. Also liege ich in der Hängematte und lasse die Untätigkeit über mich ergehen. Nach ungefähr einer Stunde setzt dann ein überraschender Effekt ein. Plötzlich bin ich tiefenentspannt und genieße es, einfach nichts zu machen, den Booten hinterherzuschauen und den Kindern zuzuwinken (ich kann es aber nicht lassen, zu fotografieren, ganz ohne technische Geräte geht dann doch nicht).
Kein ablenkendes Handy zu haben, ist irgendwie auch schön. Nicht umsonst sind die zwei Wochen ohne Handy, nachdem ich wieder mal eines verloren habe, oft mitunter die schönsten seit langem. Mal schauen, ob das auch auf der anderen Seite der Welt zutrifft. Und für die, die mich trotzdem erreichen wollen: In die Mails schaue ich jetzt dafür wieder regelmäßig, meinen Laptop habe ich noch nicht verloren. Da bin ich entweder unter meiner privaten Mail-Adresse zu erreichen oder unter der, die in der Rubrik „Kontakt“ steht.
