Zwischen den Fronten
Wieder ertönt der laute Knall einer Explosion. Der Fahrer unseres Kanus schaltet den Motor aus. Am Ufer wenden sich Dorfbewohner von ihrer Arbeit ab. Sie schauen nachdenklich in Richtung der anderen Seite des Flusses: Hinter den Hügeln voller verwachsener Wildnis müssen sich gerade grausame Szenen abspielen. Es ist nicht das erste Mal, dass die Situation eskaliert. Gerade erstaunt ist man hier nicht über die erneuten Erschütterungen. Die Einwohner des Rakhaing-Staates wissen schon, dass es sich wieder um Kämpfe zwischen dem Militär Myanmars und der Rebellengruppe „Arakan Army“ handelt.
Dieses Mal habe ich mich entschieden, durch die Hintertür in das Land zu kommen. Wir – mein Guide und ich – klappern nicht wie üblich die beliebtesten Spots ab, sondern gehen dorthin, wo das Auswärtige Amt einen Besuch abrät: In den Westen Myanmars, der durch den Völkermord an den muslimischen Rohingya internationale Bekanntheit erlangt hat.
Im leichtfertigen Glauben um die Eindimensionalität des Konfliktes kommen wir in unserem 20 Jahre alten Toyota-Bus über einen schlecht ausgebauten Pass über das Arakan-Gebirge in die Region. Nach drei Grenzkontrollen mit fragenden Gesichtern beim Anblick eines Touristen legen wir schließlich ein Mittagessen ein. „Alles friedlich“, meint der gutherzige Restaurant-Besitzer, der uns für gerade einmal drei Euro pro Person ein Buffet aus zehn verschiedenen regionalen Spezialitäten auftischt. Mich wundert es bei dem Gedanken an den vor kurzem veröffentlichten erschütternden Bericht von Amnesty International, wie das Leben hier einfach weiter geht.
Als wir die Fahrt fortsetzen, bekommen wir einen ersten Eindruck von der ländlichen Region. Kilometerweit prägen Hütten aus Bambus, Reisfelder und Wälder das Landschaftsbild. Am Straßenrand trümmern Bauarbeiter mit ihren Hammern auf Steine ein, andere schneiden mit Macheten das wuchernde Gras und Kinder in Schuluniformen treten ihren langen Heimweg an. Die Zeit scheint hier stehengeblieben zu sein. Und von einem ethnischen Konflikt auf den ersten Blick keine Spur.
Unser erster Eindruck eines friedlichen Zusammenlebens erlischt spätestens am nächsten Morgen. Nach einer Nacht in einem schäbigen Guesthouse in der Kleinstadt Minbya besuchen wir ein Dorf der Rohingya. Sie sind eine Ethnie sunnitischer Muslime, welche hauptsächlich im Norden des Bundesstaates leben. Am Eingang des Dorfes finden wir ein Schild bekanntem blau-gelbem Logo: Unter anderem sind hier Fördergelder der EU und Spenden der Organisation Plan International hinein geflossen. Davon seien die Straße, ein spartanisches Schulhaus und eine funktionierende Wasserversorgung errichtet worden, erzählt uns ein dort lebender Junge Mitte zwanzig, der uns durch das Dorf führt.
„Wir sind in diesem Land offiziell niemand“, erklärt er uns. „Wir haben keinen Ausweis. Man erlaubt uns nicht einmal auf den Markt zu gehen, um Essen einzukaufen. Wenn wir etwas essen wollen, müssen wir jemanden schicken, der uns dann zehn Prozent auf jeden Einkauf berechnet.“ Dass die Rohingya eine stark benachteiligte Minderheit sind, ist keine Neuerscheinung seit dem Völkermord von 2017. Ganz im Gegenteil: Der Grund für die bis heute anhaltende Situation liegt mehr als 70 Jahre zurück. Während des zweiten Weltkrieges kämpfen die Rohingya als Alliierte der Briten, die ihnen einen muslimischen Staat versprachen, gegen die Rakhaing-Buddhisten als Aliierte der Japaner. Als Burma 1948 die Unabhängigkeit erlangt, besteht die neu gebildete Regierung überwiegend aus Buddhisten. Diese betrachten die Rohingya bis heute als bengalische Einwanderer und verweigern ihnen die Staatsbürgerschaft.
Warum ist der Konflikt dann erst vor Kurzem wieder hochgekocht? Am 25. August 2017 tötet eine islamistische Rebellengruppe bei Anschlägen auf Polizei und Armee 71 Menschen. Die Gruppe aus Extremisten der Rohingya verfolgt das Ziel, einen eigenen Staat auf Grundlage der Scharia errichten. Die Antwort des Militärs erinnert an den klassischen Fehlschluss, dessen sich auch im von Populismus geplagten Europa häufiger bedient wird. Wie so oft wird der Fehler begangen, von einer islamistischen Extremistengruppe auf eine ganze Religion und deren Anhängerinnen und Anhänger zu schließen. Das Militär nimmt den Angriff in der Folge als Rechtfertigung für einen leider nicht beispiellosen systematischen Völkermord. Ganze Dörfer werden niedergebrannt und Muslime mit bestialischen Mitteln getötet. Fast eine Million Rohingya müssen nach Bangladesch fliehen, um dem dem aus Ressentiments entsprungenem Hass zu entkommen. Dort leben sie unter katastrophalen Umständen in Flüchtlingscamps.
Dieses Dorf, das wir besuchen, ist von den Unruhen verschont geblieben. Das Leben hier ist sehr einfach. Neben einem Haus aus schiefen Brettern geht ein kleines Mädchen in die Hocke und hinterlässt sein Verdautes einfach mitten im Wohnbereich der Familie. Toiletten gibt es keine – dafür einen Fluss. Zum Waschen und Kochen ist ein Becken angelegt worden – darin eine grüne, nicht definierbare Brühe. Meine Absteige in der Nacht war dagegen noch purer Luxus.
Mittlerweile haben sich etwa 20 neugierige Kinder zu uns gesellt. Wir machen ein paar Fotos mit ihnen. Nach jedem Bild tummeln sie sich um die Kamera und schauen erstaunt, wenn sie sich darauf wiederfinden. Ich bin zwar glücklich, dass die Kinder Spaß haben. Aber ich fühle mich in der Rolle des weißen, privilegierten Besuchers aus der europäischen Wohlstandsgesellschaft im Angesicht dieser unwürdigen Lebensbedingungen nicht wohl. Fast schäme ich mich dafür, durch das zufällige Geboren-Werden in die friedliche Blase des Westen Europas, Startbedingungen für das Leben bekommen zu haben, die in einem Rohingya-Dorf in Myanmar nicht einmal denkbar sind. Ist es zudem nicht Extremismus-stärkend, den Leuten hier vor Augen zu führen, wie groß die Kluft zwischen ihrer und der möglichen Lebenswelt ist? Die schlechten Lebensverhältnisse sind mitunter ein Nährboden für den Radikalismus. Nicht nur hier, sondern auch in den Flüchtlingsunterkünften in Bangladesch.
Mit gemischten Gefühlen fahren wir weiter in die Stadt Mrauk U, in der das Militär der Regierung noch vor zwei Wochen scheinbar grundlos auf Zivilisten geschossen hat. Erst vor Kurzem hat Amnesty International die Armee für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht – unter anderem für ethnische Säuberungen, Folter und Vergewaltigungen. Von dem soll bei der letzten Aktion in Mrauk U nichts passiert sein – nur die Glasfassade einer Bank hat unter den Schüssen gelitten. Seitdem ist man auch hier auf der Hut. In der Stadt geht das Gerücht um, dass die Soldaten ganz gerne schießen, nachdem sie getrunken haben. Beweisen lässt sich das schlecht. Es könnte auch eine verzweifelt einfache Antwort auf die zunehmend undurchsichtigen Motive der Kämpfe sein.
Denn die Verfolgung der Rohingya ist mittlerweile nebensächlich geworden, seitdem eine Rebellengruppe wieder zunehmend aktiv geworden ist: Die Arakan Armee, die seit Monaten für die Autonomie des Bundesstaates in der Region kämpft. Ihre Videos, die frei auf YouTube zugänglich sind, erinnern an die Propaganda-Methoden der Nationalsozialisten: Unter fröhlicher Marschmusik marschieren Truppen der Rebellen über das Gelände. Zwischen Übungskämpfen und -schüssen kommen Soldaten zu Wort: „Fight for freedom“, „Arakan State“ oder „We love our fatherland“ sprechen die uniformierten Frauen und Männer in die Kamera. Zu den wohligen Klängen von Gitarren-Seiten mag der ein oder andere in eine National-Romantik verfallen ohne die gefährliche Ideologie hinter den vielversprechend klingenden Worten begriffen zu haben. Gezielt nutzen die Rebellen die Sehnsucht nach Gemeinschaft in einer Region, in der die Kämpfer sonst nur – überspitzt formuliert – einsam Reis pflücken oder auf Steinen einhämmern würden. Der ideologische Kampf zur „Befreiung aus der Sklaverei der Regierung“ stillt den Durst der Menschen, sich selbst in ihrer Rolle als sinnvoll und wichtig wertschätzen zu können.
Die großen Verlierer sind auch hier wieder die Rohingya. Denn die Arakan-Armee basiert auf einem tief in ihrer Ideologie verankerten Rassismus: die Unabhängigkeit wollen sie nur für die Buddhisten erkämpfen. Zum Repertoir ihrer Feindbilder gehören neben dem Militär die Muslime im Bundesstaat. – Die Vorurteile einiger Weniger? Leider nicht. Die Rebellengruppe genießt scheinbar eine breite Unterstützung in der Bevölkerung. Immer wieder sprechen die Buddhisten vor Ort begeistert von ihrer eigenen Unabhängigkeits-Armee. „The whole state supports the Arakan Army“, erklärt man uns immer wieder. Darunter auch ein sehr freundlicher Junge, der uns beim Reparieren unseres Autos hilft und am Unterarm ein Tattoo mit der Aufschrift „ARAKAN“ hat. Man macht es sich zu einfach, wenn man davon ausgeht, dass nur bärtige durchgedrehte Männer zu unkontrolliertem Nationalismus neigen.
„Ethnisch motivierte Auseinandersetzungen“ klang für mich immer nach Dummheit und gegenseitigem Köpfe-Einschlagen – weit weg von der eigenen Lebensrealität. Doch jetzt bekommen die von mir schon längst abgestempelten Menschen ein Gesicht. In diesem Fall zur meiner Verwirrung unter anderem ein freundliches – das des hilfsbereiten Teenagers mit einem Tattoo einer Rebellenarmee.
Am Abend treffen wir zufällig auf eine weitere Reisende und eine amerikanische und damit – wie sie selbst erzählt – einzige ausländische Englischlehrerin im ganzen Bundesstaat. Wir dürften wohl gerade die einzigen „Ausländer“ weit und breit sein und sind wir zwangsweise über das Zusammentreffen überrascht. Bei einem Abendessen am Streetfood-Stand tauschen wir uns aus und stufen die Lage – in unserer gutgläubigen Blauäugigkeit – als relativ ungefährlich ein. So wächst die etwas widersinnige Idee, am nächsten Tag eine Sightseeing-Tour zu starten.
Wir relativieren unsere Einschätzung der Sicherheit, als wir am nächsten Morgen von unserem Kanu aus Explosionen hören. Wir sind alle etwas unsicher und lenken uns mit Gesprächen ab. „Das ist das erste Mal für mich, in einer unsicheren Region zu sein“, erzähle ich der Mitreisenden. „For me too!“, ruft mein Guide freudig aufgeregt von vorne, als ginge es hier um eine lustige Fahrt in einen Freizeitpark. Später werden wir erfahren, dass wir uns im Zentrum des Kampfes befanden. Das Militär und die Arakan Armee hätten sich über den Fluss, auf dem wir fuhren, bekämpft. Die Bomben seien über uns zur anderen Seite des Ufers geflogen. Ungefähr 40 Tote hätte es dabei gegeben. Eher weniger ein Anlass für Freizeitpark-Stimmung. Als wir unsere Fahrt auf dem Fluss fortsetzen, tauchen auf unserer Rechten dutzende mit grünen Planen bedeckte Häuser auf. „Ein Flüchtlingscamp mit Rakhaing-Buddihsten und Menschen der Chin. Seit drei Monaten steht es dort schon“, wird uns erklärt. Zivilisten, die durch die Gewalt des Konfliktes aus ihrer Heimat vertrieben wurden.
Ein Dorf der Chin ist auch gleichzeitig unser Ziel für heute. Die Volksgruppe wurde vor allem durch die Frauen bekannt, deren Gesichter Tattoos zieren. Das ist auf eine uralte Tradition zurückzuführen. Eine Geschichte besagt, dass man die schönen Frauen ursprünglich aus Angst vor dem König durch die Tattoos hässlich machen wollte, da er die Schönsten für sich einsammeln ließ. „Ihr seid sehr mutig, hier her zu kommen“, begrüßen uns die mittlerweile sehr alten tätowierten Damen. Auch hier ist der Konflikt das Topthema. Trotzdem scheint in diesem vor sich hin träumendem Dorf die Welt noch in Ordnung zu sein. Kinder spielen Fußball, Ziegen, Hunde und Schweine trotten zwischen den Häusern herum und die Erwachsenen halten Mittagschlaf in ihren Bambushütten.
Doch der Eindruck eines vor sich hindösenden Landes trübt. Seit die demokratische Regierung unter der Friedensnobelpreisträgerin San Suu Kyi im März 2016 ihre Arbeit aufnahm, ackert sie viele hinterlassene Baustellen der Militär-Diktatur ab. Denn einerseits sind dem Militär trotz der neuen Verfassung 25 Prozent der Parlamentssitze zugesichert, sodass die repressive Vergangenheit immer noch wie ein spukender Geist jede Entscheidung mitbestimmt. Andererseits hat die neue Regierung mit etlichen Rebellen zu kämpfen, die nach Autonomie streben. Die Arakan-Armee ist dabei nur eine unter vielen Extremistengruppen, welche über das ganze Land verteilt kämpfen. Die junge Demokratie ist vor allem noch eines: sehr wackelig.
Ein Freund-Feind Bild zu zeichnen, fällt mir sehr schwer. Als bekennender Europäer ist die Antwort eigentlich klar: Die Friedensnobelpreisträgerin und Regierungschefin Aung San Suu Kyi verkörpert geradezu die Werte von Frieden, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Das mörderische Militär und die Rebellengruppen sind dagegen der Inbegriff von Gewalt, Rassismus und Blutvergießen.
Doch ich habe das Gefühl, dass mit der Öffnung nicht nur die wirklich zu unterstützenden freiheitlichen Werte die Köpfe der Menschen erobern, sondern vor allem auch der westliche Konsumismus. Die zunehmenden Bestrebungen, es den Wohlstandsgesellschaften gleich zu tun, legen sich wie eine Decke über das Land und ersticken die letzten Flecken asiatischer Kultur. Erdölfirmen können eine Entspannung der Lage im Bundesstaat kaum erwarten. Schon jetzt zapft die Regierung Ressourcen an, baut eine Gaspipeline nach China und lässt die Region von dem Ertrag kaum etwas spüren. Der Import des libertären kapitalgetriebenen Systems wird auch das letzte Stück Ursprünglichkeit platt machen und die großen Monopol-Firmen werden ihre Hände um die Rohstoffe des Landes schlingen. Damit verbunden die Zerstörung der kulturellen Schätze und die Verdrängung der lokalen Produkte.
Natürlich ist auch das Abschneiden von moderner medizinischer Versorgung oder das Verwehren von alltagserleichternden Produkten kein Weg, der in Frage kommt, um eine wie auch immer geartete Authentizität zu wahren. Auch zur Parole des Schutzes einer imaginären Leitkultur vor jeder Art von Andersartigkeit abzuschrecken, ist falsch. Die Gradwanderung verläuft zwischen dem Stolz auf die eigene Herkunft sowie das Zelebrieren der eigenen Bräuche und dem Übereifer, die eigene Kultur als einzig wahren Ausgangspunkt für ein Weltbild zu verwenden, von dem aus man etwas desto mehr ablehnt, je mehr es vom „Bekannten“ abweicht. Vielmehr wäre eine globale Weitsicht gefragt, die die eigenen Bräuche als Puzzleteil in die Vielfalt der Erde einordnet.
Ich würde bei der Frage nach der Einführung des westlichen Systems für einen Mittelweg plädieren: Das Übernehmen der westlichen Werte von Freiheit, Frieden, Menschenrechten und Offenheit. Aber das Ablehnen vom einseitigen ideologischen Konsumismus. Die Nestlés und Monsantos können von mir aus wieder den Rückweg antreten. Ein solch utopischer Kompromiss ist von der Realität natürlich fernab. Gandhi würde die Hoffnung trotzdem nicht aufgeben: „Warum wiederholen wir immer dasselbe? Lasst uns eine neue Geschichte erfinden!“ Ein bisschen Blauäugigkeit darf man sich als junger Noch-nicht-Student ja erlauben.
Am Abend fahren bewaffnete Militärkonvois durch die Stadt. So ein großes Aufgebot habe man in Mrauk U noch nie gesehen. Als wir noch einen Tempel besichtigen wollen, rät uns ein Mönch, jetzt besser ins Guesthouse zu gehen. Schnell spricht sich herum, dass man sich heute Abend besser nicht auf der Straße aufhalten soll. Zum ersten Mal erleben wir einen Ausnahmezustand. Die Stadt ist wie leergefegt und zum Abendessen sind wir bei einer Frau zu Hause, die sonst an ihrem Streetfood-Stand verkauft. Man befürchtet das Schlimmste. Als wir am Morgen aufwachen, ist zum Glück nichts dergleichen passiert. Der große Schlag blieb diese Nacht noch aus. Doch das wird nicht das Ende der Unruhen für die junge Demokratie Myanmar gewesen sein. Es steht ein holpriger Weg bevor.
